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„Es gibt keine Triage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“

Wildblumen

Prof. Dr. Renate Schepker

27. Mai 2021

Interview mit Prof. Dr. Renate Schepker, Regionaldirektorin des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg und Vorstandsmitglied der wissenschaftlichen Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP).

Stiftung "Achtung!Kinderseele: Der Pressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Jakob Maske, hat in einem Interview mit der Rheinischen Post erklärt, im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrien finde „eine Triage“ statt. Er betonte, die Psychiatrien seien so voll, dass dort nur noch suizidgefährdete Kinder und Jugendliche aufgenommen würden. „Nur“ eine Depression reiche dafür nicht mehr. Diese Aussage hat in den Medien hohe Wellen geschlagen. Der DGKJP hat Maskes Ausführungen umgehend als „Skandalisierung“ der gegenwärtigen Situation zurückgewiesen und betont, dass es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie definitiv keine Triage gebe. Wie ist es zu diesem Dissens gekommen?

Prof. Dr. Renate Schepker: Das wüssten wir auch gerne! Klar ist, dass viele Verbände versuchen, sich über die Kinder politisch zu positionieren. Früher hieß es oft „Die Schule macht die Kinder krank!“ Jetzt heißt es „Keine Schule haben macht die Kinder krank! Und kranke Kinder finden keine Hilfe“. Das ist Sensationshascherei.


Finden denn alle Kinder Hilfe?

Jedes Kind, das notfallmäßig in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik vorgestellt wird, wird von einem Arzt untersucht, der das weitere Vorgehen abklärt. In jeder Klinik, an jedem Tag, rund um die Uhr. Wenn eine Klinik unter Corona-Quarantäne steht, springen andere ein, auch bundesländerübergreifend. Eine Triage gibt es ganz sicher nicht. Ein Kind, das nicht zwingend stationär aufgenommen werden muss, wird in das ambulante System übergeleitet, genau wie vor Corona. Und die ambulanten Systeme arbeiten schneller und mehr.


Wie kommt es zu dieser Wahrnehmung auf Seiten der Kinder- und Jugendärzte bzw. was wollen diese mit ihrer starken Wortwahl bezwecken?

Dahinter steckt der Ruf zur Öffnung der Schulen – und der Wille, mit diesem Anliegen unbedingt gehört zu werden. Was ja auch sehr gut geklappt hat. Richtig ist, dass das ambulante System an manchen Orten sehr unter Druck steht, da die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ausgelastet sind. Da kann es zu Wartezeiten kommen – und Politik und Ärzteschaft sollten dafür dringend gemeinsam nach einer Lösung suchen. Das ist aber noch lange keine Triage.


Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche in der Pandemie mehr Gewalt erfahren und in größerer Zahl Armutsbedingungen ausgesetzt sind, was wiederum seelische Krankheiten fördert. Die DGKJP hat in diesem Zusammenhang betont, dass nur eine funktionierende kommunale Daseinsvorsorge betroffenen Kindern und Jugendlichen gerecht werden kann. Gemeint ist eine kontinuierliche Zusammenarbeit von Jugendämtern, Schulen, Kitas, offener Jugendarbeit und Notbetreuungs-Einrichtungen. Ist diese Zusammenarbeit in der Regel gut aufgestellt?

Dieses für das Kindeswohl unheimlich wichtige System hat besonders in der ersten Corona-Welle im letzten Frühjahr stark gelitten, da Kitas, Schulen und Jugendzentren geschlossen waren und auch die aufsuchende Arbeit von Sozialarbeiterinnen bei Familien in schwierigen Verhältnissen gestoppt wurde. Das hat mir große Sorgen gemacht. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Politik auf die Idee kommt, nach Ende der Pandemie an der kommunalen Daseinsvorsorge zu sparen. Ihre Arbeit ist für die physische und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen unersetzlich.


Die DGKJP hat darauf aufmerksam gemacht, dass es „regional vorhandene Versorgungslücken“ in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie gebe, an denen dringend gearbeitet werden müsse. Wie stellen sich diese Lücken dar und was wird gebraucht, um sie zu füllen?

Die Bettenkapazität in den einzelnen Bundesländern unterscheidet sich stark. In Bayern und Baden-Württemberg liegt sie nur bei knapp über 3 Betten pro 100.00 Einwohner unter 18 Jahren, in Sachsen-Anhalt, dem Spitzenreiter, dagegen bei 10,5 – mehr als drei Mal so viele. Wobei Bayern im Gegensatz zu Baden-Württemberg immerhin relativ viele teilstationäre Plätze bietet, das muss man fairerweise sagen. Krankenhausplanung ist Ländersache und mit den Konsequenzen müssen wir leben. Benachbarte Kliniken helfen sich, wenn nötig und möglich aus, wir schicken aber kein psychisch krankes Kind von Ravensburg nach Halle.


BVKJ-Sprecher Maske hat der Zeitung Rheinische Post auch gesagt, im Durchschnitt habe sich der Medienkonsum bei Kindern seit Beginn der Pandemie um zwei bis drei Stunden täglich gesteigert. 15 bis 20 Prozent der Kinder hätten außerdem ungewöhnlich viel Gewicht zugenommen. Ist das auch Ihr Wissensstand bzw. Ihr Eindruck?

Es ist kein Wunder, dass Kinder zunehmen, wenn kein Sportunterricht gegeben wird, alle Spiel- und Sportplätze zu sind und man möglichst zuhause bleiben soll. Die gute Nachricht: Bei den allermeisten wird es sich von selbst normalisieren, wenn sie sich wieder bewegen wie früher. Auch was den Medienkonsum angeht, sollte man nicht alles pathologisieren. Das Chatten ist ein guter Ersatz für Treffen mit Freunden - und viele Online-Spiele sind interaktiv, da kommen die Kinder und Jugendlichen auch in Kontakt. Wir haben schon einige aufgescheuchte Familien in der Ambulanz gehabt, denen wir gesagt haben, dass der Medienkonsum ihres Kindes im Rahmen der aktuellen Gegebenheiten völlig ok ist. Eine Zunahme von Spielsucht unter Kindern und Jugendlichen im pathologischen Sinn ist bislang statistisch nicht bewiesen, wir haben immer noch keine Daten und ich bin wirklich dafür, den Kontext in die Definition mit hineinzunehmen. Krasse Einzelfälle gibt es natürlich immer.


Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Jörg Dötsch, hat gefordert, Schulen und Kitas zu öffnen – mit angemessenen Regeln und Testungen. Er betont, es sei "absolut notwendig", jüngeren Kindern und Jugendlichen "ein normales soziales Leben zu ermöglichen, damit sie sich normal entwickeln können". Was sagen Sie dazu aus kinderpsychiatrischer Sicht und mit Blick auf das Infektionsrisiko?

Ich bin hier für große Vorsicht. Auch Kinder und Jugendliche können schwer an Corona erkranken. Wir sollten dieses Risiko so gering wie möglich halten und lieber weiter im Wechsel-Unterricht bleiben. Ganz öffnen würde ich deshalb frühestens bei einer Inzidenz von unter 50 und ich verstehe die verschiedenen Strategien unter den Bundesländern nicht wirklich. Es ist ein Jammer, dass die Schulen letzten Sommer die Chance verpasst haben, Konzepte für guten Online-Unterricht zu entwickeln. Leider haben weder die Politik noch die Verantwortlichen an den Schulen vorausgesehen, dass die Pandemie so lange dauern würde – und jetzt haben wir noch immer kaum tragfähige Konzepte für das Lernen auf Distanz. Dabei wird das in Ländern wie Australien seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert. Man hätte das Rad nicht mal neu erfinden müssen.


Kinder und Jugendliche zählen zu den letzten, die die Chance auf eine Impfung bekommen. Dabei hat die Corona-Pandemie ihr Leben viel stärker verändert als das der meisten Erwachsenen. Gerade ältere Jugendliche mussten lang gehegte Pläne über den Haufen werfen, finden keine Praktikums- oder Ausbildungsplätze und können nicht ins Ausland. Auch ihr soziales Leben ist nahezu lahmgelegt. Schlägt das bis in die Kinder- und Jugendpsychiatrie durch? Gibt es Patienten und Patientinnen, von denen Sie denken, dass diese ohne die Corona-Epidemie wahrscheinlich keine stationäre Therapie gebraucht hätten?

Was sich abzeichnet ist, dass es signifikant mehr Abbrecher an den allgemeinbildenden Schulen gibt. Das Stütz- und Fördersystem ist weitgehend weggebrochen, was zusammen mit dem Distanz-Unterricht dazu geführt hat, dass Schüler, die auf der Kippe standen, ganz abgehängt worden sind. Das wird uns als Gesellschaft noch eine Weile beschäftigen. Und natürlich haben wir in den Kliniken Jugendliche, die resigniert haben, weil sie das Gefühl haben, durch die vielen Beschränkungen keine Handlungs-Möglichkeiten zu haben. Manche rutschen dann über die Resignation in eine Depression oder eine andere Störung. Ich sehe da aber bislang kein katastrophales Ausmaß, wenn man bedenkt, wie viele Jugendliche schon seit über 14 Monaten nahezu komplett ausgebremst sind. Allerdings können wir nicht mal so einfach, anders als die Triage-bedrohten Intensivstationen, unsere Kapazitäten erweitern. An manchen Orten ist die Not deutlich gestiegen, so dass es jetzt bereits Landesregierungen gibt, die zusätzlichen Handlungsbedarf erkennen. Was auf jeden Fall klar ist: Man wird künftig an der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht sparen können und dürfen.


Die Stiftung "Achtung!Kinderseele" wurde 2009 von der DGKJP in Zusammenarbeit mit den Fachverbänden BAG und BKJPP ins Leben gerufen.



Wir empfehlen auch das aktuelle Interview des Bayerischen Rundfunks mit Prof. Dr. Eva Möhler, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychologie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes und Kuratoriumsmitglied der Stiftung "Achtung!Kinderseele".

Sie spricht über die Entwicklung des seelischen Leidens von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie. Und wie wir als Gesellschaft in der Bewältigung der Herausforderungen gerade für die junge Generation zusammenarbeiten sollten. Hier geht es zum Interview.



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